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Wo ich Flow erlebt habe.
Drei Berichte
Reto:
«Gespannte Erwartung in der vol- noch ganz gebündelt bei der Sache.
len Stadtkirche. Der Dirigent tritt Meine Hände bewegen sich wie
an sein Pult. Die Geräusche vereb- von selbst am Cello, als ob ich mit
ben. Konzentrierte Stille in Chor meinem Instrument verwachsen
und Orchester. wäre, als ob es mein eigener Körper
Ich sitze an meinem Cello, leicht wäre.
erhöht über dem Publikum, vor Bis zum Schlusston hält diese
mir der Dirigent, neben mir das Präzision an, und während dieser
Cembalo, hinter mir meine Mit- verklingt, halte ich den Atem an.
cellistinnen und Kontrabässe. So Andächtiges Schweigen im Publi-
eingebettet fokussiere ich mich auf kum… bis dieser Fluss, der auch
die bald ertönende Bachkantate. die Zuhörenden durchströmte,
Ich darf das Continuo-Cello spie- vom Applaus verwirbelt wird… «
len, welches auch die Gesangssolis-
ten begleitet.
Und dann geht’s mit Pauken und
Trompeten los. Jedes einzelne Ins-
trument fügt sich ein in dieses ge-
niale und wohl inspirierte Gewebe
aus Tongirlanden und tiefgläubi-
gem Text im Gesang. Alles verdich-
tet sich zu einer einzigen Aussage,
dem Lob Gottes. Das geht mir zu
Herzen, es jauchzt und jubiliert in
mir. Mein Celloklang verschmilzt
mit den anderen. Ich höre zwar
mich selber, doch meine Wahr-
nehmung weitet sich plötzlich und
gibt mir das Gefühl, eins mit allen
Akteuren zu sein. Chor und Or-
chester sind auf einmal ein einziger
Körper. Dieser Zustand ist selbst
für Profis selten. Aber auch wir als
Amateure nehmen intuitiv wahr,
wenn dieses Einssein erreicht ist.
Ein unglaubliches Glücksgefühl
durchströmt mich. Alles um mich
beginnt zu strahlen, ich löse mich
von den Noten, bin aber immer
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